09.11.1989. Mauerfall. Ich bin in der 7. Klasse und 12 Jahre alt. Und ich bekomme nichts mit.
Kontext: Ich bin im West-Berliner Charlottenburg aufgewachsen. Als "echter Berliner" der 80er war die Mauer eine Konstante. Sie war da, wie ein beliebiges Gebäude und folglich dachte ich nicht bewusst über sie nach. Berlin war durchaus speziell: Ich durchfuhr gruselige Geisterbahnhöfe, mit Aussichtsplattformen konnte man auf die "andere Seite" blicken, im Intershop auf dem im Ost-Teil gelegenen Bahnhof Friedrichstraße kaufte ich mit meinem Vater manchmal Zigaretten und bei Militärparaden der Alliierten stand ich begeistert auf dem Kaiserdamm. Die Erde und ich bebten, erschüttert von den vorbei fahrenden Panzern! Der Radiosender hieß RIAS - "Rundfunk im amerikanischen Sektor". Das war meine Normalität und ich dachte nicht über sie nach.
Ulrike Sterblich formulierte es in ihrem vorzüglichen Buch "Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt", so:
In West-Berlin gab es, in Ermangelung von Vorstadt, tatsächlich gar keine Vorstadtjugendlichen. Es gab allenfalls den Stadtrand. Und die Jugendlichen, die dort wohnten, waren mit der Innenstadt viel stärker verbunden als echte Vorstadtjugendliche in echten Vorstädten, allein schon deshalb, weil vom West-Berliner Rand aus gesehen der Blick automatisch in die Stadt gerichtet war, denn drumherum verlief ja die Mauer.
Die, die mir glaubten, dass die Mauer um die ganze halbe Stadt herumführt, waren manchmal schockiert. Wie mann denn da rauskäme? Na, mit dem Auto oder mit dem Flugzeig, meinte ich. Ob es nicht schrecklich wäre, immer so eingesperrt zu sein? Erstens, sagte ich, sieht man die Mauer nur, wenn man da hinfährt. Da, wo ich wohne, sehe ich die zum Beispiel nie und ich sei auch noch niemals zufällig dagegengeprallt und musste mir denken: Oh, die Mauer, dann muss ich wohl jetzt wieder umkehren.
Mein Kontakt mit der DDR war vor 1989 gering: Ich unterfuhr sie mit der U-Bahn. Reisen durchliefen umfangreiche Kontrollen. Das Geräusch der Transitautobahn - dudumm dudumm. Der Blick von der Aussichtsplattform hinüber. Eine ausgereiste Mitschülerin, die dann in meine Klasse ging.
Am 9.11.1989 fiel die Mauer und ich schlief. Meine Eltern besuchten währenddessen Ost-Berlin. Sie erzählten mir morgens, was geschehen war. Ich verstand nicht und ging zur Schule, wo kurz über das Thema gesprochen wurde und ich völlig übertrieben etwas von Trabis auf dem Ku'Damm erzählte (vermutlich, weil mir meine Eltern davon berichteten). Von den kommenden Tagen und Wochen habe ich nur noch Bruchstücke in meiner Erinnerung, die ich in keine zeitliche Reihenfolge bringen kann:
- Der erste Besuch in Ost-Berlin.
Mit Ost-Mark. Mit grotesk niedrigen Preisen. Schlecht schmeckender Club-Cola. Merkwürdig gekleideten Menschen. Merkwürdigen Formulierungen wie "Abgang" statt "Ausgang". Einer grauen Stadt. Krepppapier als Klopapier. Schreibwarenläden, die braune Radiergummis verkaufen (überhaupt: So vieles war braun oder orange, wenn es nicht grau oder dunkelblau war). Eierliköreis im Centrum am Alex war eine Portion Eiswürfel mit Eierlikör drauf gekippt. - S-Bahn-Züge mit roten Warnleuchten und einem Klingelgeräusch.
- Holz-U-Bahn-Züge, die schwankend über abgefahrene Gleise fahren.
- Fahrkarten"automaten", bestehend aus einer Rolle Fahrscheine, von der man sich theoretisch beliebig viele abreißen konnte, auch ohne zu bezahlen.
- Holz-Straßenbahnen, die die Schönhauser Allee entlang schlichen.
- Weiß-Rote S-Bahn-Züge, die so dicht getaktet (oder so desorganisiert) fahren, dass sie vor dem Alexanderplatz immer warten müssen.
- "Sie werden platziert" in Restaurants.
- In einem Restaurant an der Schönhauser Allee stand eine U-Bahn.
- Privat-Taxen, die einfach am Straßenrand halten und fragen, ob sie einen mitnehmen können.
- Die Frage meines Vaters, ob er seinen Ausweis dabei haben würde und uns in den Westen fahren könnte.
- Ein Fahrradausflug, wobei der Reifen meines Vaters in den ungewohnten Straßenbahnschienen an der Warschauer Straße kaputt ging.
- Ein Ausflug in den damals noch geöffneten und mit DDR-Fahrgeschäften gefüllten Spreepark.
- Gerne erinnere ich mich an durch ihre Mechanik unglaublich laute Fahrgeschäfte und alte Holz-Spielautomaten.
- Ein Ausflug nach Werneuchen, mit einer alten Straßenbahn, die ungeheuer stark schwankend durch den Wald fuhr.
- Das Entfernen der Mauerplatten und vor allem: Große, überschwengliche Freude bei allen, die dabei waren.
- Reisebusse, die zur Verstärkung der normalen BVG-Busse fuhren, sowie Busse anderer Städte, bei denen ich nie wusste, wie die Türknöpfe funktionierten.
- Die Feuerwerksfeier am Brandenburger Tor zum 3.10.1990.
- Meine Eltern verkauften in Fußgängerzonen Kram wie Gummibärchenanstecker, Alf-Klammerfiguren, Sonnenbrillen, neonfarbene Brillenbändchen usw. Alles wurde ihnen aus den Händen gerissen.
- Später: Die große Baustelle am Potsdamer Platz, die wir mit der Schule besuchten.
- Ein Schulbesuch im Tierpark.
- Das merkwürdige Gefühl von "Falschheit", als auf einmal die U2 zur "Vinetastraße" fuhr.
- Das plötzliche Aufkommen von DDR-U-Bahn-Zügen im West-Netz. Die DDR-Züge konnte man immer an dem Luftberg erkennen, den die nicht sehr windschnittigen Kästen durch den Tunnel drückten. Sie waren innen braun. Und sie waren unglaublich laut.
Es dauerte lange, bis das ehemalige Ost-Berlin im Schul-Alltag oder privaten Leben angekommen war. Auch hier ein Ausschnitt aus dem Buch:
Nur ganz langsam gewöhnte ich mich überhaupt an den Gedanken, den Osten in meine alltäglichen Bewegungen durch die Stadt einzubeziehen. Um von Kreuzberg nach Wedding zu kommen, zum Beispiel, fuhr ich noch lange auf den vertrauten Wegen um Mitte herum, bis mich bei irgendeiner Gelegenheit eine - natürlich westdeutsche - Kommilitonin darauf aufmerksam machte, dass ich einen Umweg nahm. An den einst bizarren Geisterbahnhöfen der U-Bahn-Linien 6 und 8 hielten jetzt die Züge. Man konnte dort einfach zum Spaß aus- und wieder einsteigen.
West-Berlin war noch jahrelang meine hauptsächliche Umgebung. Das änderte sich erst Mitte der 90er, als meine Club-Zeit begann. Freunde wohnten in Friedrichshain und manche Clubs waren in Friedrichshain oder Prenzlauer Berg. Ich zog 1998 nach Friedrichshain und wohnte bis 2014 in verschiedenen Bezirken Ost-Berlins. Ende der 90er vollzog sich dadurch auch ein Wandel meines Bewegungsradius: Ich war nur noch im ehemaligen Ost-Berlin unterwegs und der ehemalige West-Teil wurde zu dem Teil der Stadt, der sich fremd anfühlte.